…Möglichkeiten und Grenzen
Verfasser: Prof. Dr. K. Wiemann – Gesamthochschule Wuppertal
Das Aufkommen des ursprünglich aus den USA stammenden Stretchings, einer speziellen Methode des Dehnens von Muskeln, hat sowohl in Therapie und Rehabilitation als auch im sportlichen Training zu einer grundlegenden Wandlung in der Beurteilung der Wirkung von Muskel-Dehnübungen geführt: Federnde, rhythmische Dehnübungen werden als zerrende, reißende Misshandlung des Muskels verteufelt, »sanftes«, langsames Stretching als allein »flexibel« machendes Allheilmittel angepriesen. Ob die dem Stretching nachgesagten Wirkungen auf nachgeprüften Tatsachen beruhen, soll im folgenden dargelegt werden, indem die biologischen Grundlagen zum Stretching aufgezeigt, Begriffe abgegrenzt, Methoden und Techniken des Stretchings erläutert, gesicherte Befunde gesammelt und die Möglichkeiten und Grenzen des Stretchings abgesteckt werden. Behandelt man einen Muskel oder eine Muskelgruppe mehr oder weniger systematisch mit Dehnungsübungen, lässt sich in der Regel feststellen, dass die Reichweite (die Bewegungsamplitude) in diesem Gelenk nach der Behandlung größer ist als vorher (4). Daraus leitet man eine Anzahl von Effekten ab, die Dehnungsmaßnahmen auf den Muskel ausüben könnten, etwa eine »Verlängerung« des Muskels bzw. eine Vermeidung oder Beseitigung von Muskelverkürzungen oder eine Reduzierung des Muskeltonus bzw. eine Beseitigung von Hypertonie, eine Steigerung der Belastungsfähigkeit des Muskels bzw. eine Verletzungsprophylaxe und als Folge davon eine Steigerung der Leistungsfähigkeit des Muskels. Um aufzuzeigen, welche dieser Annahmen nach dem derzeitigen Wissensstand berechtigt sind und welche Effekte man von einem Stretching guten Gewissens erhoffen kann, müssen Begriffe wie Muskeldehnung, Muskelspannung und Muskellänge definitorisch abgegrenzt werden.
Das Ruhespannungs-Dehnungsverhalten des Muskels
Aufgrund seiner Elastizität kann sich der zwischen Ursprungs- und Ansatzstelle ausgespannte Muskel auch im ruhenden, relaxierten Zustand in seiner Länge der jeweiligen Gelenkstellung anpassen. Wird beispielsweise ein Gelenk aus einer Beugestellung in eine Streckstellung gebracht (d.h. wird der Beugewinkel vergrößert), werden zwangsläufig Ursprungs- und Ansatzstelle des Muskels auf der Beugeseite des
Gelenkes voneinander entfernt, folglich wird der Beugemuskel in die Länge gezogen (Abb. l), er wird gedehnt, wobei jedoch nur die »fleischigen« Anteile des Muskels, die Muskelfasern und das die Muskelfasern umgebende Bindegewebe die Längenänderung mitvollziehen, während die Länge der sehnigen Anteile nahezu unverändert bleibt. Wird anschließend das Gelenk wieder durch äußere Kräfte gebeugt, zieht sich der Muskel aufgrund seiner Elastizität aus dem gedehnten Zustand in einen entdehnten Zustand zusammen. Die jeweilige, von der Gelenkwinkelstellung abhängige, augenblickliche Längenausdehnung eines Muskels soll im folgenden Momentanlänge genannt werden.
Während eines Dehnungsvorganges setzt der nicht aktive, ruhende Muskel der dehnenden Kraft eine Spannung, die Ruhespannung, entgegen. Diese steigt mit zunehmender Dehnung an, jedoch nicht linear, sondern exponentiell (Abb. l). Im Laufe des Vorganges der Entdehnung geht die Ruhespannung wieder ohne irgendeinen Verlust oder Dehnungsrückstand auf den Ausgangswert zurück.
Diese Fähigkeit des Muskels wurde bisher in der Literatur zum Thema Muskeldehnung nicht nur nicht berücksichtigt, sondern statt dessen die Meinung vertreten, nach jeder Dehnungsmaßnahme müsse mit einem Dehnungsrückstand, alsoeinernicht vollkommen wiederhergestellten Ursprungsspannung, gerechnet werden. Ausgang zu dieser verbreiteten Annahme ist vermutlich ein Beitrag von Dordel, der in diesem Zusammenhang stets zitiert wird. Dordel bezieht sich auf Ramsey und Street, die feststellten, dass isolierte Fasern des M. sartorius des Frosches dann, wenn sie bis über 160% einer mittleren Ruhelänge gedehnt werden, im Laufe der Entdehnung die Ausgangslänge nicht rückstandslos wieder einnehmen können. Es ist allerdings zweifelhaft, ob diese Ergebnisse auf Muskeln in vivo übertragen werden können; denn in eigenen Tests mit den ischiokruralen Muskeln des Menschen in vivo konnten wir nur maximale Dehnungsgrade von durchschnittlich 140% (3) erreichen, also Dehnungsbeträge, die auch in den Versuchen von Ramsey und Street vollkommen reversible Ausgangslängen gewährleisteten.
Nichtsdestoweniger lässt sich feststellen, dass homonyme Muskeln verschiedener Personen unterschiedliche Ruhespannungen zeigen, so dass man hochtonige von niedertonigen Muskeln differenzieren kann. Da sich dies auch an isolierten Muskeln beobachten lässt, müssen die Gründe dazu genetisch bedingte Differenzen der Eigenschaften morphologischer Strukturen in den Muskelfasern sein. Darüber hinaus lassen homonyme Muskeln individuell unterschiedliche Gelenkreichweiten zu, was erlaubt, Muskeln nach ihrer Dehnfähigkeit zu beurteilen. Inwieweit aber beide Parameter, Ruhespannung und Dehnfähigkeit, miteinander korrelieren, und wie sie durch Dehnungsmaßnahmen beeinflusst werden können, ist weiter unten noch zu besprechen.
Die fibrilläre Struktur des Muskels
Diejenigen Strukturen, die für die Elastizität des ruhenden Muskels verantwortlich zeichnen, sind die verschiedenen Arten von Fibrillen, die in unterschiedlichster Weise außerhalb und innerhalb der Muskelfasern angeordnet sind.
Außerhalb der Muskelfaser finden sich kollagene Mikrofibrillen, die sowohl die gitterstrumpfartigen Hüllen der Muskelfasern und der Faserbündel (Endomysium und Perimysium) als auch die Sehne bilden, sowie dünne retikuläre Mikrofibrillen, die die Sehnenfibrillen und die Kollagenfibrillen der Faserhülle mit dem Sarkolemm verknüpfen. Innerhalb der Muskelfaser müssen zwei Fibrillengruppen beachtet werden, nämlich die kontraktilen Myofibrillen und diejenigen Mikrofibrillen (intermediäre Filamente), deren vernetztes System das Strukturgitter innerhalb der Faser darstellt, für die Aufrechterhaltung der Organisation innerhalb der Faser verantwortlich ist und die Verbindung der kontraktilen Fibrillen untereinander und mit der Fasermembran herstellt. Die kontraktilen Fibrillen bestehen aus Ketten hintereinandergeschalteter Sarkomere, wobei die Sarkomere einerseits diejenigen Filamente (Aktin- und Myosinfilamente) enthalten, die durch Querbrückenbildung für die Kraftproduktion während der Kontraktion verantwortlich sind, und andererseits Connectinfilamente (»dritte« Myosinfilamente bzw. »Lücken«Filamente) besitzen, die sich in den Lücken zwischen den Aktin- und Myosinfilamenten in Sarkomerlängsrichtung von den Z-Scheiben bis zu den M-Scheiben ausspannen, hochelastisch sind und für den Zusammenhalt innerhalb des Sarkomers verantwortlich zeichnen.
Zugspannungen, die von außen, z.B. durch eine dehnende Kraft während eines Stretchings, auf die Muskelfaser wirken, werden auf dem Wege über die Sehnenfibrillen und die kollagenen Fibrillen der Faserhülle, die retikulären Mikrofibrillen, die intermediären Filamente des Strukturgitters innerhalb der Faser sowohl in longitudinaler als auch in transversaler Richtung bis auf die Myofibrillen übertragen, wobei die Stukturfilamente der Muskelfaser, vor allem aber die Elastizität der Connectinfilamente, die Quelle für die Ruhespannung darstellen. Ist der Muskel aktiv, d.h. verkürzen sich durch Querbrückenbildung die Sarkomere der Myofibrillen, wird die auf diese Weise erzeugte Kraft auf dem umgekehrten Weg über die Fibrillen des Strukturgitters longitudinal und transversal auf das Sarkolemm und von dort über die retikulären Mikrofibrillen, die kollagenen Fibrillen der Faserhüllen und die Sehnenfibrillen auf die Knochenansatzstellen übertragen.
Erst in extremeren Dehnungsbereichen liefern auch die Faserhüllen einen Beitrag zur Ruhespannung. Dabei richten sich die kollagenen Mikrofibrillen, die sich im entdehnten Zustand schlaff und locker überkreuzen, zunehmend parallel zur Faserlängsachse aus. Bei einer Entdehnung »lockern« sich die Fibrillenstrukturen wieder auf.
Der Dehnungsvorgang wirkt auf die Myofibrillen in der Weise, dass innerhalb der Sarkomere die beim Menschen 1,3 um messenden Aktinfilamente an den 0,8 um langen Myosinhalbfilamenten vorbeigleiten, so dass sie sich zunehmend weniger überlappen. Werden die isolierten Fasern des Froschsartorius über 180% der mittleren Ruhelänge gedehnt, überlappen sich die Filamente nicht mehr. Werden nach einer solchen extremen Dehnung die Fasern wieder entdehnt, finden die Aktinfilamente nicht vollständig in die zugehörigen Lücken zwischen den Myosinfilamenten zurück und stauchen sich an der Grenze vom A-Band zum I-Band. Dieses Phänomen ist offensichtlich der Grund dafür, dass bei diesem Experiment in vitro nach dem Entdehnen Länge und Ruhetonus nicht mehr der Ausgangsposition entsprechen. Da solche Dehnungsgrade von über 180% beim menschlichen Muskel in vivo nicht auftreten, ist das Argument des Dehnungsrückstandes als Ursache der Verbesserung der Dehnfähigkeit durch Stretching hinfällig.
Ein Längenmaß für den Muskel
Die aktuelle Länge (Längenausdehnung) eines Muskels hängt davon ab, in welcher Winkelstellung sich das zugehörige Gelenk augenblicklich befindet. Zusätzlich beeinflussen individuelle Bedingungen wie Körpergröße, Knochenstruktur oder die Geometrie von Ursprungs- und Ansatzstelle die absolute aktuelle Muskellänge, d.h. die Muskel-Momentanlänge. Um die Länge homonymer Muskeln bei unterschiedlichen Personen oder die Länge ein und desselben Muskels vor und nach einer Dehnungsbehandlung vergleichen zu können, muss ein Längenmaß zur Verfügung stehen, das von individuellen Gegebenheiten und momentanen Gelenkstellungen weitgehend unabhängig ist. Ein solches Maß liefert die Kraft-Längenrelation des Muskels.
Ein Muskel kann in den einzelnen Gelenkwinkelstellungen trotz gleicher, konstant maximaler Anstrengung (bzw. trotz gleicher Innervation) nicht gleich große Kontraktionskräfte über die Sehne auf die Knochenansatzstellen wirken lassen. In einer mittleren Gelenkwinkelstellung ist die Kontraktionskraft in der Regel größer als in extremen Beuge- oder Streckstellungen. Der Grund dazu ist die Tatsache, dass sich die Aktin- und Myosinfilamente der Sarkomere der Myofibrillen in den einzelnen Gelenkwinkelstellungen, in denen die Muskelfasern und somit auch die Sarkomere unterschiedlich gedehnt sind, unterschiedlich stark überlappen und sich auf diese Weise eine differierende Anzahl von Querbrücken, die Quellen der Kontraktionskraft, bilden kann. Überlappen sich die Filamente optimal, beim menschlichen Muskel mit mittlerer Sarkomerlänge zwischen 2,73 und 2,90 um, wird die größte Kraft freigesetzt. Ist das Sarkomer stärker gedehnt, können sich aufgrund reduzierter Filamentüberlappung (= bei größer werdendem H-Band und I-Band) nur eine geringe Anzahl von Querbrücken bilden. Somit ist die freisetzbare Kontraktionskraft entsprechend niedriger. Wird dagegen das Sarkomer in einem entdehnten Zustand, in dem sich auch die Aktinfilamente überlappen oder – unterhalb einer Sarkomerlänge von 1,73 um – die Myosinfilamente gar an die Z-Scheibe stoßen, zur Kontraktion gebracht, ist das Kraftpotential des Muskels ebenfalls reduziert.
Es ist nun anzunehmen – und eigene Befunde am Beispiel der ischiokruralen Muskeln stützen dies (3) -, dass der Zustand der optimalen Filamentüberlappung bei einzelnen Personen nicht in der gleichen Gelenkwinkelstellung auftritt. Wenn beispielsweise der Beugemuskel einer Person X die Maximalkraft in einer stärkeren Beugestellung des zugehörigen Gelenkes erzeugt als der homonyme Muskel der Person Y, der die Maximalkraft in einer weniger stark gebeugten Gelenkstellung erreicht, heißt das, dass in ein und derselben Winkelstellung die Muskeln der beiden Personen unterschiedlich stark gedehnt sind und sich die Aktin- und Myosinfilamente der Sarkomere unterschiedlich überlappen – bei Person Y optimal, bei Person X aber nur noch geringfügig. Daraus ist zu folgern, dass der Muskel der Person X kürzer ist als der gleiche Muskel der Person Y.
Somit lässt sich die funktionelle Länge identischer Muskeln bei unterschiedlichen Personen durch den Gelenkwinkel bestimmen, in dem der Muskel die Maximalkraft erzeugt. Die zugehörige Muskellänge ließe sich Standardlänge, Optimallänge oder Mediallänge nennen. Sie gibt zusammen mit der Gradangabe der zugehörigen Gelenkstellung das Maß für die funktionelle Länge des Muskels.
Andererseits: Würde man an einem bestimmten Muskel einer Person feststellen, dass sich nach einer Trainingsmaßnahme, etwa einem Kraft- oder einem Dehnungstraining, die Mediallänge, also derjenige Dehnungsgrad, in dem die Maximalkraft erlangt wird, in einem anderen Gelenkwinkel auftritt als das vor dem Training der Fall war, könnte man daraus eine Veränderung der funktionellen Muskellänge ableiten.
Die möglichen Wirkungen eines Stretchings
Über die Wirkung von Dehnungsmaßnahmen oder Stretching auf die diversen muskulären Parameter und ihre Beziehung zur Vergrößerung von Gelenkreichweiten bzw. Verbesserung der Dehnfähigkeit lassen sich nun folgende Hypothesen bilden:
l. »Stretching erhöht die Belastungsfähigkeit des Muskels, so dass eine höhere Reichweite im zugehörigen Gelenk möglich ist.« Träfe diese Annahme zu, müsste die Ruhespannungs-Dehnungskurve nach den Dehnungsbehandlungen weiter ansteigen als vorher (Abb. la). Das heißt, der Muskel hält größere dehnende Kräfte aus und lässt auf diese Weise zu, dass er auf eine größere Momentanlänge gezogen bzw. das Gelenk in eine extremere Stellung gedreht wird.
2. »Stretching setzt die Ruhespannung des Muskels herab, so dass der Muskel aufgrund eines erniedrigten Widerstandes gegen die dehnende Kraft eine größere Reichweite des betreffenden Gelenkes zulässt.« Nach dieser Annahme müsste die Ruhespannungs-Dehnungskurve durch Stretching »nach rechts«, d.h. in Bereiche extremerer Gelenkwinkel, verschoben sein. (Abb. Ib). Dadurch träte nach dem Stretching in einer gegebenen Winkelstellung eine niedrigere Ruhespannung als vor dem Stretching auf.
3. »Stretching verlängert den Muskel, so dass der Muskel aufgrund seiner größeren Länge größere Reichweiten des betreffenden Gelenkes zulässt.« Nach dieser Annahme müsste im Kraft-Längendiagramm der Muskel nach der Dehnungsbehandlung die Maximalkraft in einem größeren Gelenkwinkel, d.h. bei einer größeren Momentanlänge, erreichen als vorher (Abb. Ic).
Die letzte Annahme schließt stillschweigend mit ein, dass ein »längerer« Muskel, d.h. ein Muskel, der nach der vorliegenden Definition seine maximale Kraft in einer größeren Gelenkwinkelstellung, also bei einer größeren Momentanlänge, erzeugt, der dehnenden Kraft einen geringeren Widerstand entgegensetzt. Selbstverständlich setzt die 3. Annahme eine Umstrukturierung der Muskelfasern durch Wachstumsprozesse voraus und ist deshalb nur für längerfristige Dehnungsbehandlungen gültig.
Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit durch Stretching
An Gelenken, deren Bewegungen durch Knochenhemmung oder Massenhemmung begrenzt werden, ist eine Vergrößerung der Reichweite durch Dehnungsmaßnahmen nicht möglich. Werden die Bewegungsamplituden von Gelenken durch Bänderhemmung bestimmt (z.B. Kniegelenk, Sprunggelenke, Wirbelgelenke), liegt eine Erweiterung der Gelenkbeweglichkeit durch extreme Dehnungsmaßnahmen in gewissen Grenzen zwar im Bereich des Möglichen, ist aber nicht unbedingt ratsam, um die Stabilität der Gelenke nicht zu gefährden. Nur an denjenigen Gelenken, deren Reichweiten vorwiegend durch Muskelspannung limitiert werden, kann eine Verbesserung der Beweglichkeit durch Maßnahmen der Muskeldehnung möglich und sinnvoll sein, vor allem im Bereich des Schultergürtels, des Rumpfes und der Hüfte.
Beim Stretching bzw. beim funktionellen Dehnen wird nun versucht, die über ein Gelenk oder ein Gelenksystem ziehenden Muskeln möglichst isoliert zu dehnen, um die dehnende Wirkung auf den jeweils ausgesuchten Muskel, unbeeinträchtigt durch den Widerstand anderer Muskeln, maximal zu gestalten. Dies soll an folgendem Bei spiel verdeutlicht werden: Die Beweglichkeit im Schultergelenk wird durch die Ruhespannung einer Vielzahl von Muskeln eingeschränkt, z.B. auch durch den M. biceps brachii. Aufgrund seines Verlaufes vom Schulterblatt bis zur Speiche bewirkt eine Kontraktion des M. biceps
1. eine Außenrotation (Supination) der Speiche um ihre Längsachse,
2. eine Beugung des Ellenbogengelenkes
3. eine Anteversion des Oberarmes im Schultergelenk.
Um den M. biceps effektiv dehnen zu können, müssen die beteiligten Gelenke in solche Positionen bewegt werden, die den Gegenpol zu den aufgezählten Funktionen darstellen:
a) der Unterarm wird nach innen rotiert (proniert),
b) das Ellbogengelenk gestreckt
c) der Arm im Schultergelenk retrovertiert.
Die resultierende Position bedeutet eine maximale Muskel-Momentanlänge und somit eine maximale Dehnung für den M. biceps, ohne dass andere Muskeln der Schulter vergleichbar extrem gedehnt würden und dadurch der Dehnungseffekt auf den M. biceps geschmälert werden könnte. Auf ähnliche Weise lässt sich nahezu jeder andere Muskel des Schultergürtels von den übrigen isoliert dehnen, indem seine Funktion berücksichtigt wird. So gleicht eine Dehnungsübung für den M. pectoralis der vorn beschriebenen Dehnungsübung für den M. biceps. Da aber der Brustmuskel bei einer Kontraktion den Oberarm nach vorn oben führt (antevertiert) und zusätzlich einwärtsrollt, muss bei einem effektiven Stretching des Brustmuskels der Arm zurückgeführt und auswärtsgerollt werden. Als Summe der Effekte der Dehnungsmaßnahmen »isolierter« Muskeln eines Gelenkes erwartet man eine besonders weitreichende Vergrößerung der Bewegungsamplitude.
Zur Vorgehensweise beim Stretching
Das oberste Prinzip zur Durchführung von Stretchingübungen lautet: keine federnden Bewegungen durchführen! Durch diese Forderung soll erreicht werden, dass der Muskel sich der Dehnungsmaßnahme nicht durch reflektorische Kontraktionen widersetzt, und dass keine dynamischen Spannungsanstiege den Muskel verletzen. Statt dessen soll der Muskel langsam gedehnt werden, möglichst bis zum Endanschlag oder zumindest bis zum ersten Auftreten eines Spannungsgefühls. In dieser Position wird mehrere Sekunden verharrt, um dann den Muskel langsam wieder zu entdehnen. Diese Art des Dehnens wird bei drei grundsätzlichen Stretchingmethoden in geringfügig variierter Art und Weise eingesetzt:
l. Statisches Stretching (SS):
Der Muskel wird zuerst gedehnt. Nach einem 10-30 s dauernden Halten der erreichten Dehnposition wird der Muskel langsam entdehnt. Den Dehnungseffekt kann man zusätzlich dadurch zu steigern versuchen, dass man am Ende der Halteperiode, dann, wenn das Dehnungsspannungs-Gefühl nachlässt, noch einmal nachdehnt, wieder 10-30 s anhält, und dann erst den Muskel langsam wieder entdehnt.
2. Kontraktion-Relaxations-Stretching (KR):
Bei dieser Methode geht dem Dehnungsvorgang eine 10 s dauernde möglichst maximale statische Kontraktion desjenigen Muskels voraus, der gedehnt werden soll. Nach einer 2-5 s dauernden Entspannungsphase (»Relaxation«) folgt die Dehnungsprozedur wie beim statischen Stretching.
Durch die maximale statische Kontraktion soll auf dem Wege über eine Reizung der Sehnenorgane die Erregbarkeit der den Muskel innervierenden motorischen Nervenzellen überdauernd gesenkt und auf diese Weise der Muskel entspannt werden (postisometrische Relaxation), so dass er eine größere Bewegungsreichweite zulässt, eine Auffassung, die gelegentlich in Frage gestellt wird und die sich mit manchen Forschungsergebnissen (2) nicht vereinbaren lässt.
3. Antagonisten- Kontraktions-Stretching (AK):
Dieses Stretching beginnt mit einem statischen Dehnen. Ist die maximale Dehnstellung erreicht, wird der Gegenspieler des zu dehnenden Muskels maximal kontrahiert. Die Kontraktion des Gegenspielers wird 10-20 s gehalten und währenddessen versucht, die Dehnstellung noch zu vertiefen. Danach wird langsam die Dehnungshaltung aufgelöst.
Durch die Kontraktion des Gegenspielers wird die Erregbarkeit der motorischen Nervenzellen, die den zu dehnenden Muskel innervieren, auf dem Wege über Einflüsse aus dem Nervensystem (reziproke Vorwärtshemmung) deutlich und nachhaltig gesenkt, was zwangsläufig zu einer größeren Nachgiebigkeit des Muskels führen soll.
Die beiden letztgenannten Stretchingmethoden werden auch PNF-Stretching (proprioceptive neuromuscular Faszilitation) genannt. Häufig werden die drei Grundformen des Stretchings auf unterschiedlichste Weise modifiziert und kombiniert. Die häufigste Kombination ist das KR-AK -Stretching, bei dem sich die Effekte der KR-Methode und der AK-Methode auf die motorischen Nervenzellen addieren.
Methoden zur Bestimmung von Dehnungseffekten
Will man den Einfluss von Stretching nicht nur auf die Bewegungsreichweite, sondern auch auf die Ruhespannung eines Muskels überprüfen, benötigt man ein Gelenk oder Gelenksystem, das in seiner Bewegung ausschließlich durch die Spannung des untersuchten Muskels begrenzt wird. Das trifft z.B. für den oben besprochenen M. biceps brachii nicht in vollem Maße zu; denn in der extremen Dehnungsstellung wirken zunehmend andere Muskeln bewegungshemmend, z.B. der große Brustmuskel und der vordere Teil des Deltamuskels. Zusätzlich tritt auf der Rückseite der Schulter zunehmend eine Massenhemmung und unter Umständen sogar eine knöcherne Hemmung auf. Dadurch ist es nicht möglich, die Spannung, die zum Dehnen der Schulter in dieser Bewegungsrichtung auf gewendet werden muss, allein auf die Ruhespannung des M. biceps zurückzuführen. Die einzige große Muskelgruppe, bei der diese Nachteile nicht auftreten, ist die ischiokrurale Muskulatur (M. semitendinosus, M. semimembranosus und M. biceps femoris caput longum), die sich an der Rückseite des Oberschenkels befindet, am Sitzbein entspringt und am Unterschenkel ansetzt. Bei einer Kontraktion dieser Muskeln wird – bei freiem, nicht auf dem Boden stehenden Bein -, das Hüftgelenk gestreckt und das Kniegelenk gebeugt. Eine Dehnung dieser Muskeln wird demnach durch eine gleichzeitig durchgeführte Streckung des Kniegelenkes und Beugung des Hüftgelenkes erreicht. Bei der dargestellten Dehnungsübung tritt in der ischiokruralen Muskulatur (außer bei wenigen extrem trainierenden Kunstturnern und Artisten) eine nicht mehr zu ertragende Dehnungsspannung auf,
noch bevor irgendeine andere Hemmungsart im Hüftgelenk zur Wirkung kommen kann. Dieser Umstand macht die ischiokruralen Muskeln zum idealen Forschungsobjekt für Dehnungsexperimente. Somit ist es nicht verwunderlich, dass sich Untersuchungen und Experimente zur Wirkung eines Stretchings überwiegend mit den ischiokruralen Muskeln befassen.
Die Methoden zur Bestimmung der Dehnungsparameter von Muskeln (hier: der ischiokruralen Muskeln) reichen von einer Beurteilung nach Augenschein über manuelle Praktiken, das Anlegen von Winkelmessern bis hin zum Einsatz aufwendiger Apparaturen. Als Beispiel soll die Beschreibung der von uns benutzten Geräte zur Quantifizierung der folgenden Parameter der ischiokruralen Muskeln dienen:
a) Dehnfähigkeit
An einem Versuchsstand wird die Versuchsperson in Rückenlage festgeschnallt, die quere Hüftgelenkachse in Deckung mit der Drehachse des Gerätes. Das rechte Bein der Vp ist in gestreckter Position auf einen »Waagebalken« gelegt und mit einer Sperre gegen ein unwillkürliches Beugen des Knies gesichert. Durch verschiebbare Gegengewichte lässt sich die Gewichtskraft des Beines eliminieren. Durch ein Hochdrehen des Waagebalkens mittels einer am Ende des Balkens angebrachten Zugschlaufe wird das Versuchsbein zügig bis zum Auftreten eines noch erträglichen Spannungsgefühls in eine Hüftbeugestellung geführt. Ein in der Drehachse befindliches Hochleistungspotentiometer registriert den Verlauf des Hüftbeugewinkels als Maß für die Dehnfähigkeit der ischiokruralen Muskeln.
b) Dehnungsspannung oder Muskel-Ruhespannung
Die senkrecht zum Waagebalken gerichtete Komponente derjenigen Kraft, die benötigt wird, um mit Hilfe der Schlaufe die Hüftbeugeprozedur durchzuführen, wird mittels DMS-Technik registriert. Da diese Dehnungskraft aufgrund der Ausschaltung der Gewichtskraft die Gegenkraft darstellt, die der ruhende , willkürlich entspannte Muskel der Dehnungsprozedur entgegensetzt, kann sie zumindest in mittleren Bereichen der Dehnungsprozedur, in denen keine Trägheitskräfte mehr auftreten bzw. noch keine Dehnungsreflexe sich zur Ruhespannung addieren, als Ruhespannunggewertet werden.
c) Faserlänge und Muskellänge
Mit Hilfe eines Computermodells, das die morphologischen Dimensionen des Hüft-und Kniegelenks in den verschiedenen Gelenkwinkelstellungen berücksichtigt, lässt sich die Momentanlänge der ischiokruralen Muskeln aus den aktuellen Winkelwerten des Hüft- und Kniegelenkes berechnen. An elf konservierten Leichen wurden von uns die Faserlängen der ischiokruralen Muskeln gemessen und mit Angaben in der Literatur verglichen. Die errechneten Mittelwerte liefern die Basis zur Errechnung des Dehnungsgrades der ischiokruralen Muskeln.
d) Kontraktionskraft und Mediallänge
Die Kraft der maximalen isometrischen Willkürkontraktionen (MIVC) wird am oben besprochenen Versuchsstand in zehn verschiedenen Hüftwinkelstellungen bei rechtwinkligem Kniegelenk bestimmt. Dabei gibt die aktuelle Muskellänge derjenigen Testposition, in der das Kraftmaximum der jeweiligen Versuchsperson, auftritt, die Mediallänge der ischiokruralen Muskeln dieser Versuchsperson wieder.
Darstellung und Vergleich von Befunden zur Wirkungsweise von Stretching
Im folgenden werden die wichtigsten in der Literatur zu findenden Ergebnisse sowie unsere eigenen, mit Hilfe von Förderungsmitteln des Bundesinstitutes für Sportwissenschaft an der Universität Wuppertal gewonnenen Forschungsergebnisse vergleichend dargestellt. Die Befunde werden in drei Gruppen besprochen. Die erste Gruppe der singulär en Dehnungsmaßnahmen behandelt einzelne bzw. nur in wenigen Wiederholungen durchgeführte Dehnungen. Kurzfristiges Dehnen stellt demgegenüber ein 15-30minütiges Dehnungsprogramm dar, das aus mehreren Sätzen mit mehrfachen Wiederholungen von Dehnungsprozeduren für einen Muskel oder eine Muskelgruppe zusammengesetzt ist, so wie es in der Therapie oder in der Trainingspraxis durchgeführt wird. Langfristige Dehnungsprogramme enthalten über mehrere Tage oder Wochen täglich oder mehrmals wöchentlich zu absolvierende Kurzzeitprogramme.
a) Bewegungsreichweite und Dehnfähigkeit
In zahlreichen Veröffentlichungen ist inzwischen der fördernde Effekt von Stretching auf Bewegungsreichweite und Dehnfähigkeit nachgewiesen (l, 3). Der Einfluss reicht von einer Verbesserung um 5% bei singulärem Dehnen (Abb. 3) bis zu 22-24% bei Langzeitdehnen (Abb. 3). In der Regel erweist sich die SS-Methode dem KR- und AK-Stretching unterlegen (l). Nur in wenigen Beiträgen ist das Stretching mit dem konservativen ballistischen (rhythmischen, intermittierenden) Dehnen verglichen. In unseren Untersuchungen (Abb. 5) erweist sich kurzfristiges ballistisches Dehnen (4) gleich effektiv wie statisches Stretching. Wydra et al. (4) erhalten sogar nur mit der ballistischen Methode einen Langzeiteffekt.
Ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen, kann festgestellt werden, dass Stretching ebenso wie ballistisches Dehnen die Bewegungsreichweite und damit die Dehnfähigkeit von Muskeln verbessern kann.
Im Gegensatz zu dem unter a) beschriebenen Parameter findet man nur vereinzelte Veröffentlichungen über die Entwicklung der Spannung des ruhenden menschlichen Muskels im Laufe einer Dehnungsprozedur. Mit den geeigneten Geräten lassen sich jedoch Spannungs-Dehnungskurven der ischiokruralen Muskeln registrieren, die den typischen exponentiellen Verlauf zeigen (Abb. 2) und die – sofern man die Dehnungsprozedur entsprechend langsam vollzieht – ohne Verfälschung durch Trägheitskräfte und Dehnungsreflexe den Verlauf der Ruhespannung wiedergeben.
Vollzieht man zwei einzelne Dehnungsprozeduren von etwa 20 s, lässt sich feststellen, dass die Dehnungsspannung, also die Spannung, die die ischiokrurale Muskulatur der Dehnung entgegensetzt, in der zweiten Prozedur in mittleren Dehnungsbereichen geringfügig herabgesetzt ist (Abb. 2, links). Zusätzlich ist sowohl die maximale Dehnungsspannung, die die Versuchsperson zu ertragen bereit ist, als auch der maximale Hüftbeugewinkel (also der Dehnungsgrad der ischiokruralen Muskeln) vergrößert.
Vergleicht man das Spannungs-Dehnungsverhalten einer ersten mit einer fünften Dehnungsprozedur, ist die Ruhespannung nicht mehr wesentlich stärker abgesenkt, dafür aber die maximal ertragene Dehnungsspannung und der Hüftbeugewinkel als Maß für die Dehnfähigkeit wesentlich vergrößert (Abb. 2). Daraus lässt sich folgern, dass – abgesehen von einem einleitenden Gewöhnungs- bzw. Aufwärmeffekt – die Ruhespannung des Muskels durch singuläre Dehnungsmaßnahmen nicht vermindert wird, dass aber die Dehnfähigkeit durch das Ertragen höherer Dehnungsspannungen ansteigt. Berücksichtigt man die eingangs erwähnten Befunde über die fibrilläre Ursache der Ruhespannung (s. Kap. 2), ist leicht einzusehen, dass eine dehnungsbedingte Vergrößerung der Nachgiebigkeit der Connectinfilamente, deren Aufgabe es ist, die organisatorische Zuordnung von Aktin- und Myosinfilamenten aufrechtzuerhalten, keinen physiologischen Sinn ergäbe.
In der Fachliteratur ist nur eine vergleichbare Untersuchung zu finden, wobei hier allerdings nicht der Spannungsverlauf während der zunehmenden Dehnung geprüft, sondern die Spannung nach Erreichen der Endstellung kontrolliert wurde. Hier ergab sich ein Absinken der Dehnungsspannung der Adduktoren des Beines während eines passiven Dauerdehnens von 15 s bis 2 min, ein Ergebnis, das aufgrund differierender Methoden nicht unbedingt mit unseren Ergebnissen zu vergleichen ist.
i Auch kurzfristige, 15 min dauernde Dehnungsprogramme können die Ruhespannung nicht entscheidend verändern, wohl aber die Dehnfähigkeit und die maximal ertragene Dehnungsspannung, also die Dehnungsbelastungsfähigkeit (Abb. 3 und 4). Dies gilt in gleichem Maße für statisches Stretching und für ballistisches Dehnen. Lediglich bei einem 15minütigen stationären Radfahren ergab sich eine tendenzielle Abnahme der Ruhespannung (Abb. 3 und 4). Schließlich wurde von uns auch noch die Wirkung eines 10wöchigen Dehnungstrainings geprüft (3mal wöchentlich 15 min).
Hier fanden wir bei den weiblichen Versuchspersonen sogar einen signifikanten Anstieg der Ruhespannung (Abb. 5).
Diese Befunde stehen im Gegensatz zu den Ergebnissen von Toft et al, die sowohl nach kurzfristigem als auch nach langfristigem KR-Stretching eine Abnahme der beim passiven Fußheben auftretenden Spannung erreichten. Allerdings kann hier die Frage, ob die gemessenen Spannungen ausschließlich Muskelruhespannungen waren, nicht geklärt werden, wie auch sonst aufgrund unterschiedlicher Methoden eine Vergleichbarkeit mit unseren Befunden fraglich ist.
Die Annahme, Dehnungsübungen würden Muskeln »entspannen«, lässt sich somit bis jetzt nicht experimentell stützen. Die Verbesserung der Dehnfähigkeit durch Dehnungsmaßnahmen lässt sich nach dem augenblicklichen Kenntnisstand nur auf eine Steigerung der Dehnungsbelastungsfähigkeit des Muskels (bzw. der Person)zurückführen. Wenn dennoch gedehnte Personen sich nach der Behandlung »entspannter« fühlen, kann derzeit dafür nur eine psychisch perzeptionelle Verursachung vermutet werden.
Natürlich bestehen individuelle Unterschiede in der Ruhespannung der ischiokruralen Muskeln, wobei Personen mit niedriger Ruhespannung dehnfähiger sind (r = 0,6). Diese Abhängigkeit nimmt jedoch durch Dehnungsmaßnahmen ab (je nach Stichprobe, Geschlecht und Behandlungsart auf r = 0,5 bis r = 0,4), im Gegensatz zur Korrelation zwischen der Dehnfähigkeit und der Dehnungsbelastungsfähigkeit (bestimmt durch die maximal ertragene Dehnungsspannung), die durch Dehnungsbehandlung von rund r = 0,5 auf r = 0,55 bis r = 0,6 ansteigt. Die Ruhespannung scheint demnach eher anlagebedingt, die Dehnungsbelastungsfähigkeit dagegen stärker trainingsabhängig zu sein.
Die während des Dehnungsvorganges in den ischiokruralen Muskeln ausgelösten reflektorischen Kontraktionen beeinflussen zwar die Ruhespannung (r = 0,4 bei männlichen Versuchspersonen und r = 0,3 bei weiblichen Versuchspersonen), nicht aber die Dehnfähigkeit. Dies entspricht den Ergebnissen von Osternig et al, Condon und Hutton sowie Moore und Hutton. Hier zeigen sich bei KR- und AK-Stretching in den Muskeln stärkere reflektorische Aktivitäten als beim SS-Stretching; gleichwohl waren die Bewegungsreichweiten größer.
In unseren Versuchen ändern sich die im Laufe der Dehnungsprozeduren auftretenden reflektorischen Aktivitäten durch Dehnungsbehandlung nicht. Nur die am Ende der Dehnungsprozedur (im Bereich der maximalen Dehnungsstellung) ausgelösten Reflexaktivitäten verringerten sich (Abb. 3) zumindest durch kurzfristige und langfristige Dehnungsmaßnahmen.
Es ist somit nicht eindeutig zu beantworten, ob durch Stretching die neuronal bedingte Entspannungsfähigkeit während des Dehnens verbessert wird.
c) postisometrische Relaxation
Auch bei postisometrischen Dehnungen ist die reflektorische Aktivität in unseren Versuchen nicht signifikant herabgesetzt (5,6% MVC-EMG gegenüber 5,8% MVC-EMG). Die Spannungs-Dehnungskurven vor und nach einer maximalen isometrischen Willkürkontraktion (MVC) zeigt nur die geringen Differenzen der Ruhespannung (Abb. 6, links), die auch bei singulärem Dehnen auftreten (Abb. 2). Allerdings ist die Dehnfähigkeit stärker erhöht als bei singulären Dehnungen. Von einer neuronal bedingten Relaxation in der postisometrischen Phase kann also keine Rede sein. Statt dessen kann die postisometrisch auftretende größere Dehnfähigkeit nur durch eine Steigerung der Dehnbelastungsfähigkeit erklärt werden. Führt man
nach der postisometrischen Dehnung eine weitere Dehnung durch, treten deutlich erhöhte Dehnspannungen – ohne Verminderung der Dehnfähigkeit – auf (Abb. 6, rechts), und die reflektorischen Aktivitäten sind erhöht (7,7% gegenüber 5,6% -MVC-EMG). Dies könnte durch die von Suzuki et al. beschriebene erhöhte Entladung der Dehnungsrezeptoren in der postisometrischen Phase und gleichzeitig durch die postisometrisch verminderte Entladung der Golgi-Sehnenorgane bedingt sein. Beide Aftereffekte führen zu einer Steigerung der Motoneuronenerregbarkeit und sprechen somit gegen die These einer postisometrischen Relaxation.
d)Muskellänge
Die – funktionelle – Länge der ischiokruralen Muskeln hat offensichtlich nur einen geringen Einfluss auf den Ruhetonus und die Dehnfähigkeit. Teilt man die von uns untersuchten Versuchspersonen in zwei Gruppen unterschiedlicher Muskellänge, ergibt sich nur bei den weiblichen Versuchspersonen eine geringere Ruhespannung und eine größere Dehnfähigkeit in der Gruppe mit »langen« Muskeln. Auch ein 10wöchiges Dehnungstraining hat keinen Einfluss auf die Muskellänge,d.h. imNachtest erreichen die Versuchspersonen ihre maximale Kontraktionskraft in dem gleichen Muskeldehnungsgrad wie im Vortest.
e) Verletzungsprophylaxe
Bleibt zuletzt noch die Frage zu klären, ob es Befunde gibt, die belegen, dass Stretching den Muskel verletzungsresistenter macht. Zu dieser Frage untersuchte Sommer 57 Läuferinnen und 241 Läufer und stellte fest, dass Läufer, die über mehrere Jahre regelmäßig ein Lauftraining absolvieren, vermehrt unter Muske\verkürzungen zu leiden haben. Dabei versteht der Autor unter verkürzten Muskeln aber nicht Muskeln, die eine Abnahme der funktionalen Muskellänge zeigen, sondern Muskeln, die aufgrund einer geringeren Dehnfähigkeit verminderte Bewegungsreichweiten der Gelenke verursachen. Sommer empfiehlt Läufern regelmäßiges Stretching, obwohl er in keinem Fall eindeutig nachweisen kann, dass Stretching Muskelbeschwerden vermindert.
In ähnlicher Weise können Buroker und schwane durch 2tägiges Dehnen (alle 2 Stunden) das Entstehen von Muskelkater nach Belastung nicht verhindern.
In einer Untersuchung von high et al. erlitten Versuchspersonen, die vor einer bis zur Erschöpfung führenden Muskelbelastung ein statisches Dehnen absolvierten, in gleichem Maße Muskelkater wie Personen ohne Dehnungstraining.
Muskeldehnung im Tierexperiment
Alle beim Menschen durchgeführten empirischen Erhebungen zur Wirkung von Stretching sind mit Personen durchgeführt worden, die körperlich uneingeschränkt belastbar waren. Sie geben somit keine Auskunft über die Ausprägung der relevanten muskulären Parameter in Fällen von Inaktivitätsatrophie oder pathologischen Befunden und geben demnach nur unvollständige Hilfen zur Gestaltung therapeutischer Maßnahmen.
Es existieren jedoch eine Vielzahl von Berichten über Immobilisierungsversuche mit Wirbeltiermuskeln. Von diesen können allerdings nur diejenigen etwas zum vorliegenden Thema beitragen, die zusammen mit der Ruhigstellung des Muskels den Dehnungszustand berücksichtigen bzw. vor und nach der Immobilisierung das Ruhespannungs-Dehnungsverhalten untersuchen:
Generell verändert ein Immobilisieren in gedehnter Position bzw. ein Dauerdehnen (in der Regel über mehrere Wochen beibehalten) das Ruhespannungs-Dehnungsverhalten nicht. Selbst ein Dauerdehnen bei vollständiger Denervierung lässt keine Wirkung auf das Ruhespannungs-Dehnungsverhalten erkennen. Das gleiche in entdehnter Position praktiziert, verschlechtert die Dehnfähigkeit oder verlagert das Ruhespannungs-Dehnungsverhalten in der Weise, dass schon bei niedrigen Dehnungsgraden hohe Ruhespannungen auftreten, die Muskelfaser aber insgesamt keine hohe Dehnbelastung aushält. Morphologisch lässt sich bei Immobilisierung in gedehnter Stellung und beim Dauerdehnen eine Zunahme der Sarkomere in Serie um 25% bzw. eine Faserlängenzunahme um 23,5% beobachten, während bei Immobilisierung in entdehnter Stellung die Zahl der Sarkomere in Serie um 40% abnimmt. Immobilisieren des gedehnten Muskels verzögert Muskelatrophie. Alle Anpassungsverläufe heben sich in einem Zeitraum von 4 Wochen nach Beendigung der Behandlung wieder auf. Aus diesen Beobachtungen schließen Tabary et al., dass eine Änderung der Sarkomeranzahl bzw. eine Längenänderung der Muskelfaser die Art und Weise zu sein scheint, in der sich der Muskel an veränderte Dehnungssituationen anpasst. Da diese Anpassung auch unter Denervierung erfolgt, scheint nach goldspink et al. die Anpassung nicht von neuronaler Kontrolle abzuhängen, sondern eine myogene Reaktion auf die passiven Spannungsverhältnisse zu sein.
Ob auch durch Stretching eine Faserverlängerung erzeugt wird, kann noch nicht geklärt werden. In unseren Langzeitbehandlungen können tatsächlich im Relativkraft-Längendiagramm bei den männlichen Versuchspersonen weniger steil abfallende rechte und linke Schenkel der Kurve beobachtet werden. Dies könnte auf eine Faserverlängerung hindeuten, aber auch auf eine Vergrößerung der Nachgiebigkeit der serienelastischen Elemente zurückgeführt werden. Nicht nur hier sind weitere Untersuchungen dringend erforderlich.
Schlussbemerkungen
Im Gegensatz zu den Kenntnissen über die physiologischen Wirkungen der Kraftbeanspruchung des Muskels sind Trainingswissenschaft und Sportmedizin noch weit davon entfernt, die Wirkung von Muskeldehnungsmaßnahmen, speziell die Effekte des Stretchings, durch abgesicherte Befunde zufriedenstellend erklären zu können. Das gilt vor allem für diejenigen Anwendungsfelder, in denen exaktere Kenntnisse besonders notwendig und wünschenswert wären, nämlich für die Bereiche Prävention, Therapie und Rehabilitation.
Von den eingangs aufgeführten erhofften Wirkungen von Muskeldehnungsmaßnahmen ist lediglich die Vergrößerung der Bewegungsreichweite in den Gelenken durch Steigerung der Dehnfähigkeit der Muskeln gesichert nachgewiesen. Diese gesteigerte Dehnfähigkeit scheint ihre wesentliche Ursache in einer gesteigerten Toleranz des Muskels (bzw. der Versuchsperson) gegenüber Dehnbelastungen zu sein, die sich schon nach wenigen singulären Dehnprozeduren einstellt und durch kurzfristiges und langfristiges Dehnungstraining enorm angehoben werden kann.
Die aus diesen Befunden gezogenen Schlussfolgerungen auf die durch Stretching bewirkte Beseitigung von Defiziten, die mit Längen- und Spannungsmerkmalen des Muskels in Verbindung gebracht werden, scheinen voreilig; denn es konnte weder eine Beeinflussung der Ruhespannung noch eine Veränderung der funktionellen Länge des Muskels nachgewiesen werden. Hier bedarf es weitergehender empirischer Forschung, wobei vor allen Dingen Befunde über diejenigen Personen fehlen, die sich durch solche pathologische Merkmale auszeichnen, die pauschal »Muskelverspannung« und »Muskelverkürzung« genannt werden. In diesem Zusammenhang erscheint es unbedingt notwendig, die Terminologie im Zusammenhang sowohl mit Längen- und Dehnungsparametern als auch mit pathologischen Auffälligkeiten des Muskels, die Dehnfähigkeit betreffend, zu präzisieren.
Literatur
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