Sinn und Unsinn des Muskeldehnens und der postisometrischen Relaxation
Von A.A. Brokmeier, Tostedt
Der Begriff Muskeldehnung impliziert, daß Muskeln alleine und isoliert gedehnt werden könnten.
Tatsächlich ist dies in vivo unter physiologischen Voraussetzungen nicht möglich. Werden nämlich Ursprung und Ansatz der Muskeln von einander entfernt, geht dies immer mit einer Gelenkstellungsänderung einher, indem alle Strukturen und Gewebe, die dieses Gelenk überlaufen oder selbst bilden, ebenfalls in ihrer Länge, Lage oder Spannung beeinflußt werden. Daher sind, wenn beispielsweise ein zunehmender Widerstand unter der Einnahme einer endgradigen Gelenkstellung auftritt, alle aktiven und passiven Gewebe in die verursachende Causa eben so einzubeziehen wie auch die steuernden neurophysiologischen Voraussetzungen und Gegebenheiten.
Unter dem Wort Dehnung wird im physikalischen Sinne eine passive Querschnitts- (Längen- oder Breiten-)änderung verstanden, die durch Druck oder Zugkräfte verursacht, zu dem Zeitpunkt einsetzt, wenn der neutrale Gewebsspannungsbereich (neutral zone) verlassen wird.
Auf den Muskel übertragen bedeutet dies, daß mit dem Auseinanderziehen der beiden polaren Muskelenden, die tatsächliche Dehnung erst mit zunehmender Spannungssteigerung in seinen Bindegeweben (elastic zone) einsetzt
Bevor es aber zu einer bindegewebigen Zugbeanspruchung kommen kann, muß primär der variable neuromuskuläre elektrische Widerstand überwunden werden, der sich parallel mit dem gleichzeitigen Auseinanderziehen der Sarkomere (Aktin- und Myosin Filamente) progressiv erhöht. Um den Reflextonus der Muskulatur unter der Dehnung reduzieren zu können, wird gewöhnlich und weitverbreitet das Gesetz Sherringtons angewandt, nach dem aus einer maximalen Kontraktion eine maximale Endspannung desselben Muskels resultieren soll (postisometrische Relaxation).
Als Indikation zur Muskeldehnung gilt ein verschlechtertes synergistisches Zusammenspiel, in dem die Agonisten einen höheren Widerstand der Antagonisten überwinden müßten, wenn deren Dehnbarkeit negativ verändert und so mit die Beweglichkeit eingeschränkt sei.
Soll in diesem Rahmen eine Effizienz des Muskeldehnens beurteilt werden, scheint es notwendig, vorher physiologische und neurophysiologische Grundlagen und Zusammenhänge in Erinnerung zubringen, bevor auf eine Wirksamkeit und Wertigkeit eingegangen werden kann.
Es war Charles Sherrington, der bereits vor 100 Jahren Begriffe prägte, wie: Beuge- und Streckreflexe, Neuron, Synapse, Propriozeptor und Propriozeption.
Diese Nomenklatur fand international eine weite Verbreitung. Seine Untersuchungen bezogen sich anfänglich auf die Reaktionen von Muskeln bei peripheren Reizen. Später konnte er durch systematische Reiz- und Ausschaltversuche eine Konvergenz verschiedener afferenter Erregungen bei einer und dergleichen Schaltstelle im ZNS bestimmen und damit beweisen, daß bei spinalen polysynaptischen Reflexen (z. B. Fremdreflex), der Ort der Auswertung, der zeitliche Ablauf und auch eine Summierung von Reaktionen in Schaltstellen des Rückenmarkes lokalisiert sein müssen.
Auf diesen Erkenntnissen aufbauend, jedoch sich mehr dem Informationseingang zuwendend, also den eigentlichen Verursachern von Reaktionen, den Rezeptoren, deren Art, Lokalisation und Funktion, forschte später Paul Hoffmann und legte mit seiner rezeptorenbezogenen Einteilung den Grundstein für die jetzt noch angewandte Klassifizierung der Eigen- und Fremdreflexe.
Wenn auch vom heutigen Standpunkt der Wissenschaft, diese Einteilung eine erhebliche Erweiterung erfahren muß, so betont sie doch wiederum diejenigen funktionellen Charakteristika, die wesentlich sind die neuralen Steuerungsvorgänge systematisiert einordnen zu können.
Der Reflextonus der Muskulatur:
Der Muskeltonus und seine Reaktionen wird bestimmt durch die Eigensysteme des Rückenmarkes und deren propriozeptoren Schaltkreise. Dazu gehören:
1. Der phasische Eigenreflex oder die autogenetische Hemmung:
Dieser Reflexbogen besteht aus zwei Neuronen (dem afferenten Ia-Neuron und efferenten A-Alpha-Motoneuron mit einer sehr kurzen Reflexzeit (Größenordnung etwa 10 Millisekunden). die nur von internen Systembedingungen abhängig ist (Agonistenbahnung, Antagonistenhemmung).
Die Erregungsschwelle steht in Abhängigkeit von der Stärke des einwirkenden Reizes.
Die Reaktion ist eine Einzelzuckung des Muskels nach dem Prinzip: ALLES oder NICHTS.
Dieser Schaltkreis des phasischen Eigenreflexes bestimmt die Längenregelung über die Muskelspindeln, deren Rezeptoren die primären anulospiraligen Endigungen der Ia-Nerven fasern sind.
Sein afferentes Neuron wirkt monosynaptisch erregend auf die Alpha-1-Motoneurone, die (wiederum) die phasischen Anteile desselben Muskels aktivieren.
Kollaterale Verzweigungen des Ia-Neu ron wirken gleichzeitig (disynaptisch) hemmend auf die Motoneurone des Antagonisten.
2. Der tonische Dehnungsreflex:
Dieser Schaltkreis bestimmt die Spannungsregelung ebenfalls über die Muskelspindel. Seine Rezeptoren sind die sekundären Endigungen der II Nervenfasern. Die afferenten Neurone wirken über ein Interneuron (disynaptisch) erregend auf die Alpha-2-Moto-neurone, welche die tonischen Anteile desselben Muskels aktivieren.
3. Die Spannungsschutzschaltung oder autogenetische Hemmung ist integriert in den Schaltkreis des Eigen- und Dehnungsreflexes
Dieser Schaltkreis bestimmt die Spannungsregelung bei erhöhten und überhöhten Spannungssteigerungen über die Sehnenspindel. Seine Rezeptoren (GOLGI-Rezeptoren) sind die Endigungen der Ib-Nervenfasern.
Die Ib-Neurone wirken disynaptisch (über ein inhibitorisches Interneuron) hemmend auf die phasischen und tonischen Motoneurone desselben Muskels. Gleichzeitig werden über Zwischenneurone, die Alpha-Motoneurone der Antagonisten (im gleichen Verhältnis) erregt.
Werden die Aktivitäten des phasischen Eigenreflexes und des tonischen Dehnungsreflexes einerseits, mit der Spannungsschutzschaltung andererseits verglichen, so scheinen sie sich zu widersprechen, in dem sie jeweils entgegengesetzt auf die in den Reflexbogen involvierten Muskeln wirken. Während die Muskelspindel-Neurone eine Kontraktion des Agonisten unter paralleler Hemmung des Antagonisten bewirken, lösen die Neurone der Sehnenspindel die Inhibition des Agonisten bei gleichzeitiger Fazilitierung (Bahnung) des Antagonisten aus.
Tatsächlich aber hat diese scheinbar entgegengesetzte Steuerung (in Verbindung mit den Regelkreisen der Mechanozeption der Fremdreflexe), eine fundamentale Bedeutung für das koordinative und kosynergistische Zusammenspiel der Muskulatur.
Unter der Prämisse daß Agonist und Antagonist gleichzeitig in Abhängigkeit von Länge und Spannung der Gegenspieler, über die gleichen spinalen Schaltsysteme aktiviert werden können, kann eine notwendige mobile Stabilität (eine gleichzeitige Ziel- und Stützmotorik) gewährleistet werden, ohne die weder ein aufrechter Gang und Stand, noch das Tätigen der Aktivitäten des täglichen Lebens denkbar wären.
Das Zusammenwirken der Muskel- und Sehnenspindel-Aktivität entgegengesetzter Muskeln garantiert eine synergistische Koordination (Kosynergismus) aller der das Gelenk überlaufenden Muskeln, in dem bei zunehmender Belastung eine kontinuierliche Gelenkstabilität ebenso verbürgt wird (Stützmotorik), wie andererseits mit der reziprogen Schaltmöglichkeit eine Beweglichkeit (Zielmotorik) des Gelenkes in der Belastung konsequent erhalten bleibt. Die eigentliche Schutzschaltung (autogenetische Hemmung), die die Erregung von den Ia- und II-Neuronen einseitig hemmen kann, tritt erst bei überhöhten (aktiven und/oder passiven) Reizen auf, die eine Zerstörung von Geweben bedingen würden.
Die Reaktion der propriozeptoren Schaltkreise der spinalen Eigensysteme auf den Reiz einer Muskeldehnung
Für die Reizung der Sehnenorgane (GOLGI-Rezeptoren) bedeutet es keinen prinzipiellen Unterschied, ob eine Spannungssteigerung durch passive Dehnung von Muskel und Sehne oder aktiver Kontraktion des Muskels aus gelöst wird.
Ihre Erregungsschwelle liegt bei einer Zugspannung von 100 -700g und ist dabei wesentlich höher als die der Muskelspindeln(speziell die des tonischen Dehnungsreflexes).
Die Sehnenrezeptoren zeigen bei lang dauerndem Dehnungsreiz nur eine geringe und langsame Adaption. Die Erregungssteigerung wird im gleichen Verhältnis (proportional) wie die Spannungssteigerung aktiviert.
Die Impulsaussendung der erregten Ib Nervenfasern endet simultan mit der Spannungsminderung des für die Erregung notwendig zu erreichenden Minimum.
Mit der Längen- und Dehnungsreizung der Muskelspindeln, ob passiv oder aktiv, werden die extrafusalen (Muskel-) Fasern ebenso verlängert wie die Intrafusalen der Muskelspindeln. Diese Spannungssteigerung erregt zu gleich die sekundärEndigungen der Ia und II-Nervenfasern, deren Erregungsschwelle bei 0 – 5 Gramm liegt. Je stärker der Muskel gedehnt wird, desto mehr erhöht sich die Aktionspotentialfrequenz der Ia-Nervenfasern, bis die sich steigernde Erregungszufuhr zu den Alpha-I-Motoneuronen, zum Auslösen des Eigenreflexes führt. Bei längerer Muskeldehnung (länger als 3 – 4 Sekunden), mit konstant gehaltener Reizstärke, adaptiert die Rezeptorerregung von einem sehr hohen Anfangswert (overshoot) auf einen Endwert, der nach ca. 7 Sekunden erreicht und kontinuierlich gehalten wird. Die Erregungsschwelle bleibt dabei erhöht (steady state) und entspricht in ihrer Höhe der Intensität der Dehnungskraft.
Das Innervationsschema des Fremdreflexes:
Die Erregungsübertragung der Fremdreflexe auf die Muskulatur erfolgt von den efferenten (peripheren) Neuronen, deren Rezeptoren, im Gegensatz zu denen der Eigenreflexe, nicht in dem eigentlichen Erfolgsorgan (dem Muskel), sondern in anderen (fremden) Geweben sitzt. wie:
In den Gelenkkapseln der Haut und den Schleimhäuten. (Daher auch der Name Fremdreflex).
Die Erregung läuft weiter über Interneurone und mehrere Synapsen, über oft zahlreiche Rückenmarkssegmente hinweg zu den Motoneuronengruppen, die im Rückenmark vertikal angeordnet liegen. Der Reflexbogen besteht daher aus dem afferenten Neuron verschiedener Interneurone und dem efferenten Neuron.
Da verschiedene Interneurone in den Reflexbogen der Fremdreflexe zwischengeschaltet sind, ist die Reflexzeit grundsätzlich länger als bei den Eigenreflexen, verkürzt sich aber in Abhän igkeit zur Reizstärke. Die Reaktion entspricht einer tetanischen oft komplex koordinierten Muskelbewegung, die bei steigender Reizstärke und zunehmender Erregungsausbreitung im ZNS(Irradiation)weitere Muskeln und Muskelgruppen aktiviert, wodurch sich Umfang und Dauer der Reaktion steigern.
Ein Fremdreflex kann auch ausgelöst werden, wenn mehrere (unterschwellige) Reize an verschiedenen Orten gesetzt, in ihrer Summierung einer adäquaten Reizstärke entsprechen.
Neben dieser örtlichen Summationsreaktion gibt es auch die der zeitlichen.
Ganz im Gegensatz zu den phasischen Eigenreflexen sind die Fremdreflexe leicht ermüdbar und erlöschen bei wiederholter Auslösung.
Die Fremdreflexe bewirken in der Regel die Erregungssteigerung einer Muskelsynergie (z.B. die der Beuger) der gleichen Extremität bei gleichzeitiger und gleichlaufender Erregungssenkung (Hemmung) der antagonistischen (Streck-) Synergie. Darüber hinaus werden synchron und simultan die Synergien der kontralateralen Extremität in die Reaktonsschaltung integriert, jedoch im umgekehrten Sinn. (In diesem Beispiel: die Strecker aktiviert und die Beuger inhibiert.)
Dieses antagonistische Zusammenenwirken kontra- und ipsilateraler Synergien wurde schon von Sherrington als reziproke Innervation bezeichnet.
Die funktionelle Organisation der spinalen Segment- und Leitungssysteme:
Die segmentale Gliederung des Rückenmarkes wird morphologisch und funktionell auf die vorderen und hinteren Wurzeln bezogen. Hier treten die peripheren und vegetativen Neurieten in den Rückenmarksquerschnitt ein und werden vom ersten auf das zweite Neuron umgeschaltet.
Die Zellkörper (Perikarya) der afferenten Neurone des Rückenmarkes, liegen in den Spinalganglien im Bereich der hinteren Wurzel. Ihre dendritischen Fortsätze ziehen mit den Spinalnerven in die Körperperiphene, wo ihre Endigungen die verschiedenen Mechano-, Nozi- und Thermorezeptoren (zum Teil auch afferente vegetative Leitungswege) bilden.
Die (überwiegenden) neuritischen Fortsätze der Spinalganglienzellen treten dann als Hinterwurzelfasem in das Rückenmark ein und teilen sich unmittelbar in drei Anteile: in einen aufsteigen den, einen absteigenden und einen segmentalen Zweig. Diese Hauptzweige können ihrerseits weitere Kollateralen abgeben.
Die auf- und absteigenden Fasern gehen Verbindungen ein, in benachbarten und teilweise auch in entfernteren Segmenten, in denen ihre Verzweigungen zu den Inter- und Motoneuronen die Grundlage für die Schaltungen von polysynaptischen Reflexen (Fremdreflexen) bilden.
Der segmentale Zweig tritt entweder direkt (monosynaptisch) oder über Interneurone (in der Regel disynaptisch) mit den Motoneuronen des gleichen Rückenmarksegmentes (Querschnittes) zur Schaltung der Muskeleigenreflexe in Verbindung.
Die verschiedenen einzelnen Muskeln wiederum, oder auch die Muskelgruppen gleicher synergistischer Funktion, werden von funktionell organisierten lokalisierbaren Gruppen von Vorderhomzellen innerviert, die entweder (seltener) eng auf 1 – 2 Segmente, oder (häufiger) über mehrere benachbarte Segmente verteilt sind. Daher muß neben einer horizontalen segmentalen Betrachtungsweise des Rückenmarkes zusätzlich eine vertikale morphologische und funktionelle Organisation berücksichtigt werden.
Beispiele einer vertikalen Innervation:
Der M. gluteus medius wird aus den Segmenten L4, L5 und S1 versorgt. Der M. gluteus maximus aus den spinalen Etagen L5, S1 und S2. Der M. biceps femoris aus den Niveaus L5, S1, S2 und S3.
Diese vertikal übereinander liegenden und zusammenhängenden Kollektive von Motoneuronen gewährleisten einerseits eine getrennte Innervationsfreiheit in den einzelnen Muskelbündeln desselben Muskels, insbesondere in den auf mehrere Gelenke unterschiedlich (teils entgegengesetzt) einwirkenden Muskelköpfen (Haupt- und Hilfsfunktionen eines Muskels) und garantieren andererseits eine komplexe Koordinationsmöglichkeit mehrerer Muskeln und Funktionen.
In diesem Zusammenhang wird ersichtlich, daß sich das polysynaptische Schaltsystem der Fremdreflexe, im Gegensatz zu dem der Eigenreflexe, nicht auf eine einzige Form der Muskelkontraktion und -hemmung beschränkt, sondern wie bei den Willkürbewegungen zusammengesetzte tetanische Kontraktionen nutzt, die in der Regel koordinierte Bewegungen mehrerer Muskeln bzw. Muskelgruppen einschließt.
Die Reaktionen der polysynaptischen Schaltkreise des Fremdreflexes auf periphere Reizung:
Im Gegensatz zu dem Funktionstyp des Eigenreflexes, läßt sich der Erregungseffekt des Fremdreflexes, mit der Erhöhung der Reizintensität durch örtliche (Anzahl der Mechanorezeptoren) und zeitliche Summation (Anzahl der Reize pro Zeiteinheit) steigern. Je größer der Zufluß afferenter Erregungen, desto mehr Interneurone werden erregt, um so länger, umfangreicher und ausgedehnter wird insgesamt die muskuläre Reaktion, so daß diese simultane Mehrfachreizung die Summe der Reaktionen auf verschiedene Einzelreize, übertrifft.
In Abhängigkeit von der Intensität, weniger von der Dauer der adäquaten Erregung der Mechanorezeptoren, greifen die Reaktionen der polysynaptischen Reflexe in die Schaltkreise der Eigensysteme des Rückenmarkes „korrigierend“ (hemmend oder bahnend) ein. In dem neben der reziproken Innervationssteuerung, beispielsweise eine, „weg-zieh-Bewegung“ im Sinn eines Fluchtreflexes garantiert wird.
Mit Überschreiten einer bestimmten Erregungsschwelle tritt allerdings bei synchroner Einwirkung starker Mehrfachreize das Gegenteil ein. Die Summierung der überhöhten Reize lösen dann gemeinsam eine schwächere Reaktion aus (Okklusion durch laterale Hemmung), als weniger intensive Einzelreize.
Die supraspinalen Schaltsysteme:
In die spinalen Schaltkreise greifen die vegetativen, nozizeptiven und supraspinalen entscheidend ein. Indem beispielsweise die Steigerung der sympathischen Reflexaktivität, die Erregungsschwelle der propriozeptiven Schaltsysteme ebenso senkt, wie eine Reizung der Nozirezeptoren, wobei die Aktivitäten der C-Nervenfasersysteme, weiterlaufend die formatio reticularis erreichen.
Die Schmerzafferenzen wirken zumeist nicht direkt sondern auf dem Wege über das Zwischenhirn (thalamus, hypothalamus) auf das limbische System. woraus neben der Erregungssteigerung der Muskulatur, auch Emotion, Affektreaktion und zusätzlich eine graduelle Steigerung der Kreislaufzentren resultieren. Insbesondere können alle höheren Zentren des ZNS, die als Komponenten für die Programmierung von unwillkürlicher Motorik und Willkürbewegungen zuständig sind, aktivierend oder hemmend in die spinalen Schaltsysteme ein greifen.
Diese Eingriffsmöglichkeit, ob intrazentral oder supraspinal, geschieht durch eine wirkungsvolle Filterung der afferenten Informationen im Bereich der Hinterhörner bzw. im Bereich der formatio reticularis. Insgesamt wird die Wertigkeit der Filterung vom limbischen System und im Zwischenhirn kontrolliert und gelenkt.
Die Dominanz der supraspinalen Schaltsysteme bewirkt einerseits bei einer willkürlichen oder unwillkürlichen Erregungssteigerung die Sensibilisierung der Muskelspindelrezeptoren durch Senkung der Reizschwelle. An dererseits kann die Propriozeptoren-Aktivität in den Muskelspindeln gehemmt werden.
Je nach dem Grade der Gamma-Innervation, werden zunächst die intrafusalen Muskelfasern (Fusimutoren) auf einen bestimmten Längen-Sollwert eingestellt, wo bei die entsprechende Zu- oder Abnahme der Erregung der Muskelspindel-Rezeptoren nachlaufend eine genau entsprechende Einstellung der extrafusalen (Arbeits-)Muskelfasern bewirkt. Eine überwiegende Erregung, entweder der Gamma 1 Motoneurone (dynamischer Einfluß) oder die Gamma 2 Motoneurone (statischer Einfluß), beeinflußt die propriozeptoren Systeme der Muskelspindel im Sinne der Längenregelung oder tonischen Spannungsregelung des Muskels.
Die Effizienz des Muskeldehnens: Einwirkung auf das Bindegewebe:
Voraussetzung einer Dehnung des in tramuskulären Bindegewebes ist das Verlassen seines neutralen Spannungsbereiches. Da der gesunde Muskel eine bestimmte vorgegebene Länge aufweisen muß, weil sonst endgradige physiologische Gelenkstellungen nicht erreicht werden könnten, muß auch sein passives kollagenes Bindegewebe diese endgradigen Gelenkausschläge ermöglichen.
Insbesondere ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, daß die kollagene Faser selbst keine eigentliche elastische nachgebende Funktion hat, sondern im Gegenteil zerreißt, wenn sie um mehr als 1/3 ihrer Gesamtlänge gedehnt wird. Die eigentliche nachgebende ,,Bremsfunktion“ besteht in dem Abflachen der Wellenform, in welcher die positiv geladenen kollagenen Fibrillen von den negativ geladenen Molekülen der Matrix (Proteoglycane) gehalten werden. Die Wellenform ist bereits aufgehoben, wenn die Fibrille um 1/6 ihrer Gesamtlänge gestreckt wurde. In der Konsequenz bedeutet dies, daß die kollagenen Fasern durch einen elektrischen Widerstand (bindegewebiger Basistonus) vor Traumatisierung geschützt werden und korrelativ in ihrer Länge so angelegt sein müssen, daß gleichzeitige endgradige Bewegungsausschläge aller Gelenke, die dieser Muskel überläuft, zugelassen werden.
Bereits 1984 haben Magid und Law nachgewiesen, daß am intakten Muskel signifikante ,,Bremsfunktionen“ des Bindegewebes als Widerstand erst dann auftreten, wenn der Überlappungsgrad der einzelnen Filamente des Sarkomer auf ein Minimum geschrumpft ist.
Damit wird das Bewegungsausmaß der Gelenkbeweglichkeit weniger vom in tramuskulären Bindegewebe als von neurophysiologischen und myogenen Faktoren bestimmt.
Tatsächlich lassen (bis auf eine Ausnahme) alle Muskeln gleichzeitige endgradige Bewegungsausschläge aller Gelenke zu, die sie überlaufen.
Die Ausnahme betrifft lediglich die ischiocrurale Muskulatur, die physiologisch verkürzt ist und sein muß, um eine Beckenstabilität im Sinne der aufrechten Haltung garantieren zu können. Sie ist die einzige Muskulatur, die im Stand und Gang eine Kraftübertragung von den Beinen auf den Rumpf gewährleistet und dabei aufgrund der begrenzten Muskellänge es nicht zuläßt, daß bei Kontraktion und Annäherung von Ursprung und Ansatz, der resultierende Kraftfluß abgeschwächt oder unterbrochen wird. Diese Schutzfunktion muß unter allen Umständen erhalten bleiben, und zwar auch unabhängig von der beim Gehen notwendigen parallelen Kniebeugung.
Erstaunlicherweise beziehen sich viele Arbeiten auf das Dehnen der ham-strings, ohne deren notwendig begrenztes Längenausmaß und deren eigentliche Funktion beim aufrechten Gang und Stand auch nur annähernd zu berücksichtigen. (Korrelativ werden unter diesem Aspekt die unterschiedlichen teils sich widersprechenden Ergebnisse verschiedener Publikationen verständlicher.)
Obwohl die kontraktilen Sarkomere schneller auf wechselnde Anforderungen reagieren, ist auch der Anpassungsgrad der kollagenen Verspannungen der Muskulatur, im Verhältnis zum physiologischen turnover, hoch und kann sich daher wechselnden mechanischen Belastungen ebenso anpassen, wie auch einer Längenzunahme und -abnahme der Muskelfasern.
Zu den Folgen einer Immobilisation gehört die begleitende Atrophie, simultan mit der Abnahme der zellulären Reaktionen. Indem aber die kontraktilen Gewebsanteile einer schnelleren und stärkeren Reduktion unterliegen, kommt es anfangs zu einem relativen Anstieg des intramuskulären Bindegewebes und später erst zu einer bindegewebigen Proliferation. Die Konsequenz begründet einerseits einen zu nehmenden muskulären Dehnungswiderstand. Andererseits ist in der Gelenkkapsel und den Bändern ebenfalls eine Zunahme des Stoffwechsels des Kollagen und seine vermehrte Ablagerung zu beobachten, welches wiederum zu einer Versteifung der Gelenkbeweglichkeit führt.
1988 konnte Williams nachweisen, daß sich der normale Kollagenanteil erhält, wenn ein durch Verletzung immobilisierter Muskel, jeden zweiten Tag jeweils 15 Minuten passiv intermittierend endgradig bewegt (gedehnt) und in dieser Position vorübergehend gehalten wurde. Darüber hinaus konnte Tabary et al. 1972 nachweisen, daß ein in gedehnter Position fixierter Muskel ebenfalls keine Bindegewebsproliferation zeigte. Nach Abnahme des Gipsverbandes und Abschluß der Ruhigstellung, brauchte dieser Muskel etwa 4 Wochen um seinen Ausgangszustand wieder zu erreichen.
Einwirkung auf die kontraktilen Gewebe:
Die Länge eines Muskels ist abhängig von der Summe der in Serie geschalteten Sarkomere, während der Querschnitt bestimmt wird von der Anzahl der Myofibrillen pro Muskelfaser.
Die Anzahl der Sarkomere ist nicht fixiert. Sie paßt sich im Bedarfsfall jeweils dem Verhältnis zur günstigsten Kraftübertragung des Muskels an. Indem ein Muskel in den Aktivitäten des täglichen Lebens in unterschiedlichen Längen arbeitet, scheint es, als wenn das Optimum der Sarkomerenlänge für diejenige Muskellänge garantiert wird, bei der sich unter normalen Alltagsbedingungen die größtmögliche aktive und passive Spannung entwickelt (Williams, Goldspink 1978).
Die Anpassung der Sarkomere an die notwendige Länge zur optimalen Kraftentwicklung steht im Verhältnis zu den Winkelstellungen des Gelenkes.
Wird ein Muskel in gedehnter Stellung immobilisiert, so werden neue Sarkomere angefügt. Bei einer Ruhigstellung in erzwungener Verkürzung, vermindern sich die Anzahl der Sarkomere und zwar ebenfalls um ein Maß, welches die optimalen Voraussetzungen für die Entwicklung von Maximalkraft in diesem Zustand bietet.
Herring et al. stellt 1984 zur Diskussion, daß die erhöhte Muskelspannung zu einer Addition bzw. erniedrigte Spannung zu einer Reduktion der Sarkomere führen könnte.
Im Verhältnis zum Bindegewebe benötigt der Muskel wenige Tage um den Anpassungsvorgang zu optimieren. Insbesondere ist in der Anfangsphase des Dehnens mit einer Vermehrung der Sarkomerzahl in der Längsrichtung des Muskels zu rechnen (Holy et al. 1980).
Die Zahl der Sarkomere ist nicht nur für die Strecke wichtig, über die sich der ganze Muskel verkürzen bzw. entspannen soll, sondern insbesondere notwendig für den optimalen Überlappungsgrad der Aktin- und Myosinfilamente, die nur in dem bestmöglichen Bereich ein Maximum an Kraft produzieren können.
Würden beispielsweise während des Längenwachstums des Skelettmuskels nicht neue Sarkomere an die Muskelfasern angefügt werden, müßte zwangsläufig der Kontakt zwischen den Filamenten verloren gehen, welches einen totalen Kontraktionsverlust bedeutet.
Mit dem Auslösen einer adäquaten elektrischen Erregung und den chemischen Reaktionen der Energiebereitstellung gleitet bei der Kontraktion das dünne Aktin- über das dicke Myosinfilament. Aus diesem Vorgang resultiert neben der Verkürzung das eigentliche Kraftpotential.
Die Verkürzungsmöglichkeit und -geschwindigkeit der Sarkomere sind wiederum abhängig von der Zahl der aktiven Kontaktstellen (Querbrücken) zu Beginn des Kontraktionsvorganges.
Einwirkung auf die neuromuskulären Zusammenhänge:
Der Begriff Muskeldehnung im Sinne von bleibender Muskelverlängerung als Resultat nach passivem Dehnungsreiz widerspricht den sich daraus entwickelnden neurophysiologischen Reaktionen.
Unter einer äußeren passiven Einwirkung zur Verlängerung des Muskels er höht sich das Erregungspotential der spinalen Eigensysteme und der Reflextonus wird gesteigert. Ein Überschreiten der Erregungsschwelle löst die Aktivität einzelner Reflexbögen bzw. die Kontraktion des ganzen Muskels aus. Lediglich die Erregung der GOLGI-Rezeptoren (Sehnenspindel) hemmt bei gehaltener Dehnung nach etwa 4 Sekunden die aktivierte anfängliche Übererregung (overshoot) der die Länge regelnden Ia-Nervenfaserrezeptoren in den Muskelspindeln und stellt sich auf eine der tatsächlichen Dehnung entsprechendes Erregungsniveau (steady state-Wert) ein. Gleichzeitig wird der Reflextonus des Antagonisten im gleichen Verhältnis aktiviert.
In der Summe resultiert eine simultane Steigerung von Agonisten und Antagonistenaktivität, wodurch korrelativ eine notwendige aktive, mobile Gelenkstabilität gewährleistet bleibt, die eventuelle Scherkräfte und Traumatisierungen zu vermeiden garantiert.
International haben sich folgende Formen des Dehnens (stretching) durchgesetzt.
- Statisches Dehnen
- Intermittierendes Dehnen
- Dehnen nach vorheriger Kontraktion desselben Muskels
- Dehnen nach vorheriger Kontraktion desselben Muskels und Kontraktion des in die Barriere ziehenden Muskels
Wydra et al. stellt 1991 fest, daß die Probleme bei der Interpretation neurophysiologischer Ergebnisse, es nicht zulassen, eine Dehntechnik als Methode der Wahl zu präferieren.
Tatsächlich zeigen alle Untersuchungen, unabhängig von der Stretchingmethode eine Steigerung der EMG Aktivität im gedehnten Muskel und zwar parallel mit dem Abnehmen des Überlappungsgrades der Sarkomer-Filamente.
Bei der postisometrischen Relaxation wird davon ausgegangen, daß durch eine vorausgegangene aktive Kontraktion eine kurze Erschlaffungsphase einsetzt, wodurch die Dehnungsmöglichkeit verbessert wird.
Diese Annahme ist falsch und es wäre interessant herauszufinden, wie und wann es zu dieser Fehlinterpretation der Aussagen Sherringtons kommen konnte.
Mittelgradige bis intensive Muskelkontraktionen erhöhen im Gegenteil die neuromuskuläre Erregbarkeit für einige Sekunden.
Statische wie auch dynamische Kontraktionen steigern gleichermaßen sowohl die Erregung in den Gamma-Fasern wie auch in dem Reflexbogen der spinalen Eigensysteme (Hutton 1984).
Obwohl Sherrington diese Aussage der sogenannten postisometrischen Relaxation zugeordnet wird, hat er sie in dieser Form nirgendwo veröffentlicht. 1906 beschreibt er lediglich das Prinzip der sukzessiven Induktion, in dem er sich auf folgenden Vorgang bezieht:
Bei einer bestimmten Muskelkontraktion, etwa einer Beugung, werden die agonistischen Muskeln sukzessive erregt, während die entgegenwirkende Reflextätigkeit der antagonistisch tätigen Muskulatur weniger stark angeregt wird.
Diese Aussage deckt sich mit den bekannten neurophysiologischen Grundlagen, wie sie auch hier vorher beschrieben wurden und verweist darauf, daß Agonisten und Antagonisten synchron, mit nur geringer Erregungsdifferenz aktiviert sind und werden. Käme es tatsächlich zu einer Erschlaffungsphase nach einer Kontraktion, wären weder eine simultane Koordination noch ein Kosynergismus möglich und die Muskulatur würde ähnlich dem Zahnradphänomen arbeiten.
Fazit:
Ob bei Immobilisation oder wechseln den mechanischen Belastungen des täglichen Lebens oder eines Trainings, immer reagieren alle involvierten Gewebe und neuralen Zentren mit einer Anpassungsreaktion und zwar ihrer jeweiligen Gegebenheiten gemäß: schneller oder langsamer, umfangreicher oder geringer.
Jedoch völlig unabhängig von den einzelnen Reaktionen der unterschiedlichsten Zellorganisationen, unterliegen alle einem gemeinsamen Ganzen, in welches sie sich harmonisch einordnen.
Steigert sich beispielsweise nach einem adäquaten Trainingsreiz die Kraft eines Muskels, die nach etwa 2 Tagen zum Zeitpunkt der reaktiven Überkompensation nachweisbar wird, hat auch schon gleichlaufend eine Proliferation des Bindegewebes mit Zunehmen des Peri-und Epimysiums eingesetzt, wodurch der Muskel als Ganzes der neuen Ausgangslage angepaßt wurde.
Als Folge der physiologischen und notwendigen bindegewebigen Anpassung, ist zu diesem Zeitpunkt ein höherer Dehnungswiderstand zu messen als vor dem Trainingsreiz.
Wird andererseits ein Muskel in Annäherung immobilisiert, kommt es zum Abbau der Sarkomere mit resultierendem Längen- und Substanzverlust der Muskelfasern.
Aus dem im Verhältnis schnelleren Abbau der Sarkomere resultiert eine relative Zunahme des Bindegewebes.
Wieder unterliegt die Reaktion dem gemeinsamen Ziel:
Trotz der veränderten Ausgangslage so schnell wie möglich weiterhin ein Optimum an Kraftübertragung gewährleisten zu können.
Auch unter diesen Voraussetzungen wird nach der Intervention ein höherer Dehnungswiderstand des Muskels gemessen, als vor der Immobilisation; wenn auch in diesem Fall der erhöhte Widerstand mehr durch die Verkürzung der Muskelfasem und den Substanzabbau des Muskels, als vom Bindegewebe resultiert.
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß ein bindegewebiger Widerstand erst zu dem Zeitpunkt einsetzt, wenn unter der Verlängerung der Muskelfasern der Überlappungsgrad der Sarkomer-Filamente auf ein Minimum reduziert wird.
Unabhängig von der aktiven oder passiven Verlängerung des Muskels erhöht sich das Erregungspotential der spinalen Schaltsysteme. Es scheint, als wenn der Organismus mittels des progressiv steigenden elektrischen Widerstandes, die Gewebe vor Traumatisierung und Funktionsverlust beschützen will. Dabei ist der einsetzende Dehnungsschmerz ein zuverlässiges Zeichen einer beginnenden Überbelastung der kollagenen Verspannungselemente für die kontraktilen Gewebe. Diese Schmerzaktivierung steigert den Reflextonus des gedehnten Muskels überproportional, indem neben den Reflexbögen zusätzlich die supraspinalen Systeme erregt werden.
Ganz besonders ist eine Schmerzempfindung zu beachten, wenn der Muskel, unabhängig von seiner Länge, über einen Zeitraum von mehr als 7 – 9 Tagen immobilisiert werden mußte. Neben der Gewebsatrophie und beginnender Degeneration der Muskelfibrillen, änderte sich insbesondere, in Abhängigkeit zur Mangeldurchblutung der passiven Strukturen, deren Stoffwechselaktivität.Hieraus resultiert eine Verminderung der Matrix mit Erhöhung ihrer Viscosität, Abbau von Glycosaminglycanen und eine Verringerung des Wassergehaltes.Die Konsequenzen sind afunktionelle cross-links, eine erhöhte Reibung bei der Translation der Fibrillen und eine exponentiell gesteigerte Gefahr der Traumatisierung der ungeschätzten kollagenen Strukturen.
Unter diesen Voraussetzungen wird deutlich, daß die Rolle des Bindegewebes als wichtigster Dehnungswiderstand bei weitem überschätzt wurde.
1988 veröffentlichten Lakie und Robson, daß sowohl passive wie auch aktive mechanische Einwirkungen verschiedener Art auf den Muskel offensichtlich dessen Eigenschaften, ganz speziell seinen Dehnungswiderstand verändern. Passive Einwirkungen wie Schüttelungen (Oszillationen) oder wiederholte exzentrische Kontraktionen, ließen den gemessenen Widerstand absinken, wobei weniger die Dauer als die Intensität der Einwirkung die Verringerung des Widerstandes bestimmte.
Auch Hutton 1984 und Hagbarth et al., beschrieben 1985, daß mit kleinen wiederholten Bewegungen oder Schüttelungen sich die Reflexantwort aus den Muskelspindeln, die über die Ia- und II-Rezeptoren vermittelt werden, zu ändern ist, so daß der Dehnungswiderstand geringer ausfällt als beim primär erschlafften Muskel.
Aus der Sicht der manuellen Therapie bietet sich für dieses Phänomen die nachweisbare Erklärung der mechanozeptiven Steuerung der Muskulatur, über die graduellen Spannungsdifferenzen von Gelenkkapsel, Bändern und Haut an, die erstmals von B. Wyke im Schaltschema des arthrogenen Reaktionsmechanismus beschrieben wurde.
Komplikationslos lassen sich diese Reaktionen vom Typ der Erregungsart und Wirkungsweise, den Propriozeptoren Schaltkreisen der Fremdreflexe zuordnen, deren mechanozeptive Afferenzenstrom die Einzelaktivität der Muskeln ebenso steuert, wie deren Koordination (siehe vorher).
Wenn Oszillationen den muskulären Dehnungswiderstand signifikant senken können, ohne einer (dehnenden) Einwirkungskomponente auf bindegewebige Strukturen, dann wird in diesem Zusammenhang erneut deutlich, daß eine Begrenzung der Gelenkbeweglichkeit sicherlich nicht vom intramuskulären Bindegewebe abhängig sein kann!
Außer den Fremdreflexen ist es nur noch dem supraspinalen Steuerungssystem möglich, die autogenetische Bahnung der Eigenreflexe zu beeinflussen bzw. zu unterbrechen. Da nicht jeder Mensch auf Kommando seine Muskulatur entspannen kann, setzt das Erkennen der aktuellen Muskelspannung einen gewissen Lernprozeß voraus. Erst wenn die Empfindung des momentanen Muskeltonus dem Bewußtsein des Patienten gegenwärtig ist, kann er über den corticalen Funktionskreis darauf einwirken.
Werden die Ergebnisse, der sich mit dem Muskeldehnen beschäftigenden (Veröffentlichungen miteinander verglichen, dann scheinen die Dehntechniken, die den corticalen Lernprozeß unterstützend aktivieren, den anderen überlegen zu sein. Dazu gehören:
- intermittierendes Dehnen,
- wiederholtes Dehnen unter exzentrischer Kontraktion und
- wiederholte Kontraktionen des Agonisten in die zu dehnende Richtung.
Der Sinn des Muskeldehnens
Zweifellos bewirken passive Dehnungen des Muskels einerseits eine Steigerung seiner Eiweißsynthese, mit Zunahme der Zahl der in Serie geschalteten Sarkomere, woraus eine Verlängerung resultiert.
Andererseits kann das passive Verlängern der Muskelfasern unter keinen Imständen als Ersatz für ein Training bzw. aktive Bewegungen des täglichen Lebens, genutzt werden, weil das Bindegewebe durch passives Dehnen im Wachstum gehemmt wird (Tabary et al.1972).
Um dennoch die besonders im Bereich des Sportes geforderte Beweglichkeit zu erhalten, sind aktive (konzentrische und exzentrische) mechanische Belastungen über das ganze Bewegungsspektrum des Muskels erforderlich, die alleine die gewünschte Länge, Verberbesserung der neuromuskulären Steuerung, wie auch ein notwendiges physiologisches Verhältnis der aktiven und passiven Gewebe eines Muskels garantieren.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum ein Muskel auf Kosten seines Bindegewebes überhaupt künstlich verlängert werden soll, obwohl er sich der erforderlichen (sportartspezifischen) richtigen Länge automatisch anpaßt und das auch noch unter der Prämisse der optimalen Kraftübertragung, im Verhältnis zur Winkelstellung des Gelenkes!
Muß darüber hinaus doch weiterhin berücksichtigt werden, daß mit der unnatürlichen Verlängerung parallel eine in diesem Bereich verschlechterte kollagene Absicherung ebenso resultiert, wie die Verschlechterung des notwendigen Wirkungsgrades der Kraftübertragung.
Als weiterer Indikator Muskeln zu dehnen, wird (neben dem überraschender Weise nicht definiertem Begriff Beweglichkeit!) ein verschlechtertes synergistisches Zusammenspiel (Dysbalance) beschrieben.
Mit Sicherheit ist jeder Laie oder medizinisch ungebildete Sportler überfordert, Zusammenhänge dieser Indikation erkennen zu können.
Voraussetzung ist nämlich die Frage, warum ein Muskel oder eine spezifische dreidimensionale Bewegungsrichtung, dem passiven Längentest, einen erhöhten muskulären Widerstand entgegensetzt.
Besteht beispielsweise u.a. nicht die Möglichkeit, daß mit der begrenzten „Dehnfähigkeit“ weiterer Schaden in anderen Geweben verhindert werden soll?
Könnte die Ursache nicht auch auf der antagonistischen Seite liegen?
Insbesondere auf diesen Umstand weist Wiemann et al. (1998) hin, indem er beschreibt, daß es angebrachter sei, statt mit Dehnungen eine muskuläre Dysbalance behandeln zu wollen, ein Muskelaufbautraining des (antagonistischen) defizitären Muskels indizierter wäre.
Die zu berücksichtigenden Gründe eines balancegestörten Gelenksystemes sind manigfaltig, da jede der involvierten, mit Rezeptoren durchsetzten Strukturen, die dem Bewegungsreiz (,,Dehnungsreiz“) ausgesetzt sind, eine Erregung im Muskel induzieren oder reduzieren können.
Damit stellt sich nicht die Frage nach einem ,,verkürzten Muskel“, sondern die nach der verursachenden Causa der veränderten Muskelspannung in Agonist oder Antagonisten, zumal der Muskeltonus von den spinalen und supraspinalen Steuerungszentren bestimmt wird und nicht umgekehrt.
Das Muskeldehnen gehört, wenn überhaupt indiziert eher in den Bereich der Diagnostik als in den der Therapie.
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Verfasser:
A.A. Brokmeier,
ehem. Leiter des Instituts Manuelle Therapie des IFK